viernes, 3 de febrero de 2012

Die Araber und der Westen

Wenn man die arabische Welt aus westlicher und noch genauer aus europäischer Perspektive betrachtet, dann fällt als erstes die Asymmetrie auf, die es im gegenseitigen Wissen gibt. Während viele Araber die Europäer sehr gut kennen, haben wir ein verzerrtes stereotypisches Bild von ihnen. Viele Araber sind zweisprachig, ganze Bevölkerungen, die, als Erbe ihrer kolonialen Vergangenheit, die Sprache ihrer ehemaligen Kolonialherren perfekt sprechen. Viele, die heute zur arabischen Elite gehören, haben ihr Universitätsstudium auf Französisch, Englisch, Deutsch, Spanisch oder Russisch gemacht, und es gibt immer mehr, die momentan im Westen leben oder einige Zeit dort gelebt haben, entweder als Emigranten oder als Studenten oder im Exil. Ihre Sprachkenntnisse erlauben ihnen, unsere Rundfunksender zu hören, unsere Presse zu lesen und unser politisches Auf und Nieder, unsere Fahrradrennen und unsere Fußballligen zu verfolgen.

Demgegenüber können nur wenige unter uns die arabische Sprache, sehr wenige können sagen, dass sie die arabisch-islamische Kultur kennen, und vom nordafrikanischen Fußball kennen wir, wenn überhaupt, Zidane. Und wenn das bei uns der Fall ist, so ist der amerikanische Fall noch viel schlimmer. Ein mit mir befreundetes amerikanisches Paar, beide studiert, die einige Tage bei mir verbrachten, nachdem ich von einer Reise aus Tunis zurückgekommen war, wussten nicht genau, ob Tunis eine spanische oder italienische Stadt war. Diese Asymmetrie bewirkt, dass wir, während sie ein sehr klares Wissen von unseren Fähigkeiten und Mängeln haben, ein diffuses stereotypisches Bild des „Araber“ haben, von früher geerbt, dem wir das Bild des Ölproduzenten und des Terroristen hinzugefügt haben, wodurch die Wirklichkeit des mittelständischen Araber verzerrt wird, der weder Rohöl besitzt noch Terrorist ist und selbst, wie alle, unter den Erhöhungen des Benzinpreises und unter den Bomben der Terroristen leidet.

Einige charakteristische Züge der arabischen Kultur
Die zweite Überraschung ist ihre großartige Kultur. Wir müssen zwischen Kultur und Zivilisation unterscheiden. Die Tatsache, dass die arabische Welt in den letzten Jahrzehnten aus einer gering technisierten Agrarwirtschaft herauskommt, stiftet dazu an zu denken, dass sie unkultiviert seien, aber die Wirklichkeit ist das ganz anders. Ihre noch geringe technologische und wissenschaftliche Leistungsfähigkeit bildet einen Gegensatz zu ihrer breiten Kultur. Den Gegensatz dazu finden wir im mittelständischen Amerikaner, Mitglied einer sehr viel mehr technisierten Zivilisation, aber einer niedrigeren Kultur. Damit will ich nicht sagen, dass alle Araber wissen, wer Velásquez, Cervantes, Shakespeare oder Goethe ist, ich meine damit, dass das Volk seine großartige und uralte arabische Kultur beherrscht. Eine Kultur der mündlichen, humanistischen Tradition, eine Tradition der Erinnerung, des tiefen Wissens über den Menschen und des lebendigen Interesses, etwas über die anderen zu erfahren und sie kennen zu lernen. Sie kennen nicht nur den Koran, die Mehrheit der Araber können lange Fragmente von Farazdaq, von Mutanabbi, von Abu Nuwas und vieler anderer auswendig; sie erzählen hunderte von Geschichten, kennen die Heldentaten von Saladin und singen zärtlich die Lieder von Umm Kulzum. Ich sage nicht, dass es keine hervorragenden Physiker, Chemiker und Ingenieure unter den Arabern gibt, und ich will auch nicht sagen, dass es nicht viele Amerikaner mit einer exzellenten humanistischen Kultur gibt. Ich beziehe mich auf den Gegensatz zwischen den durchschnittlichen Bürgern. Der technologische Kontrast ist offensichtlich, und wenn man in beiden Welten gelebt hat, ist auch der kulturelle Kontrast bemerkenswert. Die amerikanischen Kultur ist oberflächlich, egozentrisch und provinziell; die arabische Kultur ist tiefgründiger, dem anderen gegenüber offener und universeller.

Seine Gastfreundschaft, der große Respekt des Araber gegenüber der Intimität des Zuhauses und der Wert der familiären Bindungen, sein Sinn für Humor, seine Wertschätzung der Freundschaft, sein sich entspannen mittels der Sprache und der Unterhaltung, wobei jedes Wort wie ein Schluck Tee mit Minze ausgekostet wird, sowie sein Sinn für die Stammeshierarchie fällt stark auf. Dieser Stammessinn bewirkt, dass sich der Araber stärker mit den Seinen identifiziert und ein tiefes und echtes Gefühl der Familien-, Stammes- und Rassensolidarität hat... Die Hierarchisierung bringt sie dazu, parallel zu den Stammesstreitigkeiten ein echtes Gefühl der pan-arabischen Identität zu spüren, das sich im Antisemitismus geformt und im Kampf von Afghanistan gegen die UdSSR und in der Unterstützung der palästinensischen Sache durch die ganze arabische Welt verhärtet hat. Sie sind sich im Klaren darüber, was Nation bedeutet, als verbindender Wert, wobei die arabische Nation ein verbindendes Konzept ist, das Grenzen überschreitet. Ein lebendiges Gefühl zwischen den Volksmengen, das an dem Fehlen an Einheit zwischen den Regierenden scheitert. Dieses Gefühl zeigt die geringe Repräsentativität der Mehrheit der arabischen Regierungen und den Bruch zwischen dem arabischen Volk und vielen seiner Regierungen an. Die Spannung zwischen den nationalen Unterschieden, die durch die staatlichen Strukturen amtlich sind, und das generelle Streben des Volkes nach Einheit, das zum größten Teil vom integrativen Beispiel der Europäischen Union gespeist wird. Die Grenzen wurden von den westlichen Mächten mit künstlichen Linien gezogen, die Mitglieder eines einzigen Stammes trennen, wie es der Fall der Paschtunen ist, die sich auf beiden Seiten der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan ausbreiten, oder tausendjährigen Wanderwege der nomadischen Stämme unterbrechen, wie es mit den Menschen im Maghreb geschehen ist.

Der Araber hat ein schwerwiegendes Problem, das ihm die Initiative nimmt und seine Verantwortung schmälert: den deterministischen Fatalismus. Dieses Problem teilte er über Jahrhunderte hinweg mit dem christlichen Europa, aber das Dilemma der göttlichen Allwissenheit und der Freiheit wurde endgültig von Leibnitz im 17. Jahrhundert gelöst, als er den Unterschied zwischen Wahrheit und Notwendigkeit klarstellte. Dass du, lieber Leser, diese Zeilen liest, ist nicht notwendig, aber es ist wahr. Dass jemand weiß, dass du das liest, kennt eine Wahrheit, aber das macht es nicht notwendig; dein Handeln ist weiterhin kontingent und frei. Dass Gott seit der ganzen Ewigkeit weiß, dass du das jetzt lesen würdest, macht es auch nicht notwendig. Die göttliche Allwissenheit impliziert weder Determinismus noch schmälert sie die Freiheit. Im Gegenteil, es ist der atheistische Materialismus, der Determinismus impliziert, denn, wie Laplace zeigte, das Materielle ist dem deterministischen Mechanismus unterworfen, bei dem alles wegen seiner Ursachen eintritt, wodurch es vorhersagbar wird. Es ist die Freiheit des Menschen, die es erlaubt, den Determinismus zu berichtigen, da sie zweckorientiert handelt. Deshalb sagt man die Physik voraus und erklärt die Humanwissenschaften. Die Geschichte wird immer im Nachhinein geschrieben, und ebenso die Wirtschaft. Viele könnten einen Einbruch der Börse erklären, nachdem er stattgefunden hat, niemand könnte ihn vorhersagen, manche hätten ihn vielleicht als wahrscheinlich intuitiv erkennen können.

Innerhalb dieses Kontextes ist die Konfrontation zwischen der momentanen westlichen Mentalität und der modernen arabischen Mentalität, die ihren Niederschlag in einem Gefühl von Misstrauen von Seiten der Mehrheit der Abendländer gegenüber den Arabern und einem Dilemma Bewunderung-Verachtung, Anziehung-Ressentiment von Seiten der Mehrheit der Araber gegenüber den Abendländern findet, nicht zu verneinen. Sie sehen uns wie Ungläubige, unmoralisch, materialistisch, egoistisch... und reich. Das ist ein verwirrender Widerspruch zum 5. Vers der 2. Sure des Korans: “Sie (die Gläubigen) sind es, die der Führung ihres Herrn folgen, und sie werden Erfolg haben”, aber der Erfolg scheint die zu bevorzugen, die sie für gottlos halten.

Die Entwicklung der Gefühle des Volkes spiegelt sich in der Entwicklung der arabischen Literatur nach den Unabhängigkeitskriegen von der Kolonialmacht wieder. Vom reinsten Existenzialismus, Frucht der Frustration der Hoffnungen, die in die Unabhängigkeit gesetzt worden waren, in dem sich die Enttäuschung in Lebensangst manifestiert, bis zur verdeckten Kritik an den politischen Regimen, die in historischen Werken mit historischen Kontexten und Szenarien mit klar identifizierbaren zeitgenössischen Problemen, in realistischen Romanen, die eine bittere Wirklichkeit beschreiben, und in Essays über soziale Probleme geübt wird, um damit zu enden, Erzählungen des Absurden in sehr kafkaesker Formulierung hervorzubringen. Das alles zeigt die Ablehnung einer unangenehmen Wirklichkeit, um dann dazu überzugehen, die Hoffnungen in die Texte und Gesänge der islamischen Revolutionäre zu setzen.

Die Lieder sind das spontanste Zeugnis des Gefühls des Volkes, in ihnen vibrieren, außer durch das Besingen der Liebe und das Beweinen des Todes, die Aufrufe zum palästinensischen Widerstands, zur Einheit des arabischen Volkes und zum Kampf als einzige Hoffnung auf Befreiung und Zukunft. Sogar der Schiismus, der sich traditionellerweise mit der Selbstgeißelung und dem Martyrium abgefunden hat, ändert seine Einstellung in Richtung einer kampflustigeren Haltung, wobei man einen aufbrausenden schiitischen Halbmond erahnen kann, vom Süden des Libanon bis Pakistan, über Syrien, den Irak, den Iran und Afghanistan hinweg, eine vom Iran koordinierte Glaubensgemeinschaft, in der die Schiiten aufhören, Araber zu sein. Wir können von Enttäuschung, Frustration, Wunsch nach Rache und Hoffnung auf einen Endsieg, von dem sie glauben, dass er zwangsläufig mit Gottes Hilfe kommen muss, sprechen, denn letztendlich „werden es die Gläubigen sein, die Erfolg haben werden“.

In Bezug auf die Wirklichkeitsauffassung ist der Unterschied zwischen der kontemporären arabischen und der westlichen Sichtweise bemerkenswert. Eine klare und radikale Diskrepanz zwischen unseren beiden Kulturen beginnt schon bei unserer unterschiedlichen Auffassung der Wirklichkeit, wir haben verschiedene Weltanschauungen, ein Unterschied, der sich während des 20. Jahrhunderts entwickelt und verwurzelt hat und den wir mit dem Etikett Konfrontation zwischen Relativismus und Fundamentalismus versehen könnten.


Das westliche Denken
Sehr schematisch, hat drei Phasen durchlaufen, die durch die Entwicklung der Physik gekennzeichnet sind.

Zuerst hatten wir das aristotelische Denken, das wir mit dem Islam während des Mittelalters teilten. Für Aristoteles war die Welt der Mittelpunkt des Universums, ein in konzentrische Sphären eingeteiltes Universum, dass sich in einer regelmäßigen und ewigen Bewegung regte. Es ist ein simples Universum mit fünf Elementen und einem natürlichen Platz für jedes Ding, was die natürlichen Bewegungen mittels einer intuitiven Mechanik erklärt und für alle leicht verständlich ist. Es war ein stabiles, ewiges, geordnetes und bekanntes Universum, das den Menschen als Mittelpunkt und Gott als ersten Antrieb hatte. Da Aristoteles Philosoph war, war das philosophische Denken kohärent zur physikalischen Auffassung des Universums, und deshalb waren die Metaphysik sowie die Physik, die Ethik und die Politik untereinander kohärent, bekannt und weitgehend akzeptiert. Die Gründlichkeit und Kohärenz des aristotelischen Denkens bewirkte, dass es 2000 Jahre überdauerte, während des gesamten klassischen Zeitalters und des Mittelalters, ohne hinterfragt zu werden, denn außerdem stimmte es in einer Zeit, in der es keine Instrumente mit großer Präzision gab, mit den Beobachtungen des täglichen Lebens überein. In dieser langen Etappe stimmten Europa und das arabische Denken vollständige überein, wobei es in diesen Jahrhunderten viele technische und wissenschaftliche Beiträge der Araber zum europäischen Wissen gab. Es musste erst Galileo mit seinem Teleskop kommen, um zu verstehen, dass die Gestirne nicht aus einer fünften Essenz gemacht waren und auch nicht rein waren, und dass die Erde nicht ruhig im Zentrum des Universums stand.

Das moderne Zeitalter bringt Newton mit sich. Mit seiner Mechanik hört die Erde endgültig auf, der Mittelpunkt der himmlischen Bewegung zu sein, und es werden eine Reihe von universellen Gesetzen anerkannt, die in der Physik im Himmel und auf der Erde Gültigkeit haben. Die Sonne ist das Zentrum des Universums, und Kepler hatte bewiesen, dass die Umlaufbahnen der Planeten elliptisch sind, eine Tatsache, die Newton mit der Theorie von der Schwerkraft nachweist. Wir haben das Glück, dass Kant die Werke von Newton liest, durcharbeitet und versteht, wodurch er das kritische Denken entwickelt, ausgehen von der Frage nach der Wahrheit der universellen Gesetze a priori, die bei ihm die Lektüre von Newton aufwirft. Die Vernunft zeigt sich als Schlüssel zum Wahrheitswissen. Es entstehen die reine Vernunft und der kategorische Imperativ. Die Zeit und der Raum werden Formen der Empfindsamkeit. Der Mensch ist nicht das Zentrum, aber er weiß, wo das Zentrum ist. Gott und sein Werk sind rationell, und der Mensch besitzt die Vernunft, um sie kennen zu lernen und zu wissen, was er tun soll. Der kategorische Imperativ ist ein klar moralisches, rationelles und universelles Kriterium. Nur eine Hand voll arabischer Intellektueller, Erben von Averroes, akzeptierten die rationelle Kritik in dem Bemühen, die Vernunft und den Glauben zu vereinen, wobei der Salafismus eine Hoffnung auf Aussöhnung zwischen Tradition und Moderne eröffnete. Nur eine kleine Gruppe von Intellektuellen nahm die Moderne an und akzeptierte das kritische Denken. Mit der Nahda (der Renaissance) seit Mitte de 19. Jahrhunderts und bis zu Beginn der 20. Jahrhunderts begann das Bemühen, die Moderne zu verarbeiten, und es erwachte das Interesse, zu reisen und in Europa zu studieren. Tahtawi kam fasziniert aus Paris zurück und Huda Shaarwi zog sich nach ihrer Ankunft aus Rom im Bahnhof von Kairo herausfordernd den Hidschab aus. Die Nahda war ähnlich wie die japanische Meiji-Restauration, aber die arabische Modernisierung war eine eher kulturelle Bewegung, und die japanische eher wissenschaftlich. Die Araber interessierten sich für die Lebensformen, die Lehrmethoden und die westliche Literatur, die Japaner interessierte am Westen nur die Physik. Der Unterschied zwischen den Konsequenzen der jeweiligen Fragestellung ist offenkundig.

Im Westen schließt die Moderne mit Einstein, der uns die Augen für die Relativität öffnet und die Menschheit in der Erwartung eines neuen Kant zurücklässt, der das versteht, darüber nachdenkt und die erkenntnistheoretischen und moralischen Implikationen der Relativität erklärt. Das Problem unserer Zeit liegt darin, das wir alle von Einstein gehört haben und dass es uns gekannt vorkommt, dass alles relativ ist, aber wenige haben sich die Mühe gemacht zu verstehen, war die physikalische Relativität wirklich bedeutet und beinhaltet. Das moderne westliche Denken ist verwirrt und in einer Konfrontation mit dem radikalen islamischen Denken versunken. Der Grund für diese Verwirrung liegt darin, dass das Prinzip der Relativität als absolut angenommen wurde. Zu denken, dass „alles relativ ist“, und dieses zu denken, als wenn es ein unwiderlegliches und somit absolutes Prinzip wäre, führt, aus dem Widerspruch zu sich selbst heraus, zu einer Reihe von Schlussfolgerungen mit traumatischen persönlichen und sozialen Konsequenzen.

Die erste Konsequenz, wenn man das Relativitätspinzip als Basis nimmt, ist, dass die Wahrheit nicht existiert, was schon ein Widerspruch zum eigentlichen Relativitätsprinzip darstellt, denn dann wäre es nicht wahr. Das beweist seine Haltlosigkeit als Grundprinzip. Die nächste Implikation ist die Verneinung jeglicher Autorität, denn wenn es keine Wahrheit gibt, dann ist niemand in der Lage zu sagen, was man wissen muss noch was man tun soll. Als Konsequenz daraus gibt es auch keine Moral, und weil alles relativ ist und niemand sagen kann, was zu tun ist, ist alles gültig. Und da außerdem niemand die Wahrheit sagen kann, muss man auf niemanden hören. Auch die Verpflichtungen müssen nicht eingehalten werden, denn sie sind schon relativ in dem Moment, in dem sie eingegangen werden, was sie in einer Zukunft, in der die Umstände anders und wir selbst andere sein werden, ungültig macht. Das heißt, dass wir nicht nur dazu tendieren, alle Verpflichtungen abzulehnen, sondern dass wir uns als identitätslos empfinden, da wir nicht diejenigen sind, die wir in der Zukunft sein werden oder die wir vorher waren, und als solche keine Verantwortung für unser eigenes Handeln tragen, da der Verursacher von dem, was wir getan haben, ein anderes Ich war, das schon verschwunden ist, und derjenige, der für das, was wir heute machen, gerade stehen soll, ist ein Ich, das noch nicht existiert. Die Rückwirkungen sind verhängnisvoll: nichts ist wahr, nichts hat Wert, auch nicht das Leben, man kann lügen, man kann töten, es gibt kein Gesetz und keine Norm, noch gültige Autorität, noch ein gegebenes Wort, noch Verantwortung. Alles ist hinterfragbar, und das Kriterium, das zählt, ist meine persönliche Meinung.

Gegenüber diesem radikalen Relativismus, der absurd, aber im Westen weit verbreitet ist, findet sich der Fundamentalismus, nicht weniger radikal. Für den Fundamentalismus gibt es eine absolute und bekannte Wahrheit, kontextgebunden, der man folgen und treu und blind gehorchen muss, ohne Ausnahme und ohne Kritik. Nur die unterwürfige Haltung des Moslems passt dazu. Die Wahrheit steht im Koran, und es gibt keine andere. Der Dogmatismus hat den Vorteil, dass er Sicherheit, Identifizierung mit anderen Gläubigen und nicht zu hinterfragende Leitlinien für das Verhalten gibt. Außerdem erspart er uns, dass wir über unsere eigenen Glaubensüberzeugungen nachdenken und sie hinterfragen müssen, wobei wir das kritische Denken parken. Ein Vorteil davon, den Hidschab zu tragen, ist das Gefühl der Brüderlichkeit, das es verleiht. Niemals zuvor war das arabischen Denken so weit vom westlichen entfernt, was für ein Unterschied zu der Zeit, wie wir uns erinnert haben, in der wir Jahrhunderte lang die gleiche Weltanschauung teilten und der Dialog verständlich und fließend war. Heute herrscht das Unverständnis vor. Ohne Führung und weit von der Wahrheit entfernt versenken wir uns in den Weg des äußeren Scheins und der persönlichen Meinungen, ohne auf der Höhe unserer eigenen Zeit zu sein, denn wir haben Einstein nicht verstanden, noch schlimmer: wir sind zum Denken der Zeit vor Parmenides zurückgekehrt, in der der beobachtbare äußere Schein vor der Wahrheit vorherrschte, eine versteckte, aber der Vernunft zugängliche Wahrheit. Diese Art des Denkens wird von einem Islam, der sich auf das Erkennen und das Anerkennen einer offen gelegten, nicht diskutierbaren und nicht hinterfragbaren Wahrheit stützt, geradeheraus abgelehnt. Es ist schon 26 Jahrhunderte her, dass Parmenides davor warnte, dem Weg der Meinung zu folgen, und er machte auf die Zweckmäßigkeit aufmerksam, den Weg der Wahrheit zu suchen und ihm zu folgen. Aber es ist klar, dass es, wenn es keine Wahrheit gibt, keinen Weg gibt...

Uns kommt es jetzt bekannt vor, dass sich die Zeit und der Raum in eine Gesamtheit von relativen Dimensionen einfügen. Das Universum hat keinen Mittelpunkt, der Mensch ist darin verloren und Gott, wenn er denn existiert, scheint nicht in der Welt anwesend zu sein. Die Vernunft bleibt reduziert auf die praktische Vernunft, und die praktische Wahrheit wird zu Technologie, so dass wahr ist, was funktioniert, so lange es funktioniert. Wir können nur den Geräten vertrauen, und der Mensch, der sowohl die enthüllende Vernunft als auch den Glauben an das Enthüllte geparkt hat, ist dem Gefühl und dem Wunsch verfallen, einem Wunsch, der aufgehört hat, der Wunsch nach Wahrheit zu ein, und nur noch ein Wunsch nach Dingen ist. Heute ist der Mensch ein Wesen, das in den argwöhnischen Augen anderer Menschen verdächtig und drohend ist. Der Andere ist plötzlich ein Fremder. Das alter ego ist nicht mehr der Mensch, irgendein Mensch, sondern nur der, der so wie ich denkt, nachdem er meine eigene Sichtweise angenommen hat. Und wenn etwas nicht funktioniert – das Auto springt nicht an, der Computer funktioniert nicht oder das Licht fällt aus -, dann fühlen wir uns verloren in einer unverständlichen und feindseligen Welt. In der Politik ist die Wahrheit nicht wichtig, sondern nur die Meinung der Mehrheit, auch wenn sie sich täuscht. Bei der Moral, um noch etwas hinzuzufügen, zählt nur die eigene subjektive Meinung. Glücklicherweise existiert die Wahrheit, wie die Fundamentalisten behaupten. Eine andere Sache ist es, dass, wie die Relativisten verfechten, niemand von uns im Besitz der Wahrheit ist und dass wir alle eine relative Sichtweise haben, von der aus wir nur eine persönliche Meinung erreichen können, und zwar von einem voreingenommenen Standpunkt aus. Trotzdem, um auf die Relativitätsphysik zurückzukommen, wissen die Physiker, dass die Lorenz-Gleichungen erlauben, die Eigenschaften eines Objekt zu kennen, wenn wir unsere eigene relative Position kennen und wir von ihr aus die äußerlichen Merkmale, die wir von unserer Perspektive aus von dem beobachteten Objekt beobachten können, bemessen. Das heißt, es gibt eine Wahrheit, die wir einschätzen können, aber nur dann, wenn wir uns unserer eigenen Relativität bewusst sind und der voreingenommenen und relativen Eigenschaft, die unser Wissen hat.

Jeder von uns kann eine andere Vorstellung von einem Stuhl haben und sich, in Bezugnahme auf diese Vorstellung, seine eigene Meinung, die eine andere Meinung sein kann als die, die derjenige hat, der auf dem selben Stuhl sitzt, über den Stuhl bilden, aber die Tatsache, dass keiner von uns eine vollständige Sicht des Stuhls hat, ist kein Grund dafür zu denken, dass es keinen Stuhl gibt. Es gibt eine ontologische Wahrheit des Stuhls, die der Stuhl selbst ist, unabhängig davon, wie wir ihn sehen oder ob er überhaupt von jemandem angesehen wird oder nicht. Wenn es keine Wahrheit gäbe, gäbe es keine Wirklichkeit. Das merkwürdigste ist, dass Einstein nie gesagt hat: „Alles ist relativ“, ganz im Gegenteil, er hat gesagt, dass die Lichtgeschwindigkeit eine absolute Konstante ist. Die Relativität ist eine Eigenschaft der Wahrnehmung, des Anscheins, aber sie fügt der Essenz des Beobachteten nichts zu, obwohl Schrödinger sagt, dass wir durch das Beobachten verändern, was nicht leugnet, dass es existiert, sondern es bestätigt seine Existenz. Wir verändern auch jedes Werkzeug beim Gebrauch, aber deshalb ist es nicht weniger real, und wenn wir es nicht veränderten, dann müsste man weder Scheren schleifen noch Bleistifte spitzen.

Es gibt einen Teil der Wirklichkeit, der besonders faszinierend ist, und das ist die Wirklichkeit des anderen. Es ist war, dass der andere, genau wie jeder von uns, von der Wirklichkeit nichts weiter kennt als das, was ihn sein eigener Standpunkt sehen lässt, aber in Bezug auf jenen Teil der Wirklichkeit, die er selbst darstellt, müssen wir anerkennen, dass er einen privilegierten Standpunkt hat, denn er ist in dem „in sich“ seiner selbst. Deshalb können wir seit Einstein-Lorenz den radikalen Wahrheitswert, den die These des Cogito von Descartes hat, wiedergewinnen. Der andere mag vieles nicht wissen, aber er weiß, was er denkt, auch wenn es falsch sein sollte, was er denkt. Wir können also Aspekte der Wahrheit des anderen aufdecken, wenn er uns sagt, was er denkt, und wir können, wenn wir ihm zuhören, verstehen, dass, auch wenn das, was er sagt, nichts als eine Meinung, seine Meinung über die Dinge, über die er spricht, ist, wenn er wahrheitsgemäß spricht, dann ist das, was er sagt, die Wahrheit über seine Meinung und als solches ein richtiger Aspekt seiner selbst. Ein Farbenblinder könnte sagen, dass er einen grünen Stuhl rot sieht; es wäre falsch, dass der Stuhl rot ist, wahrscheinlich hat der Stuhl selbst keine Farbe, aber es wäre wahr, dass er ihn rot sieht. Wenn man die Wahrheit der Meinung des anderen aufdeckt, erleichtert das, unsere eigene Relativität und das über unsere Meinung Meinbare aufdecken zu können.

Daraus ergibt sich die Wichtigkeit des Dialogs als Mittel, um die Wahrheit des anderen und die Relativität unserer eigenen Meinung kennen zu lernen, um uns gemeinsam der Weltwahrheit zu nähern. Eine Voraussetzung, um uns der Wahrheit zu nähern, ist es, die Relativität unserer eigenen Meinungen anzunehmen und ausgehend von diesem Wissen Lorenz anzuwenden, das heißt unsere Meinung auf der Basis unserer eigenen Relativität, unserer größeren oder kleineren Nähe (in einem weiten Konzept) zur Wirklichkeit, über die wir unsere Meinung äußern, und die Beweglichkeit dieser (im weitesten Sinn von Veränderung) zu berichtigen, indem wir die ebenfalls relative Information annehmen, die uns der andere von seinem persönlichen Standpunkt aus verschafft. Der Dialog ist undurchführbar, wenn einer der beiden sich im Besitz der Wahrheit glaubt und jede Art von abtrünniger Meinung für einen Angriff auf seine eigene Integrität hält. Der dogmatische Fundamentalismus ist genau so wenig fähig, die Wahrheit zu erreichen, wie der uneingeschränkte Relativismus. Ersterer, weil er, indem er seine Meinung mit der Wahrheit verwechselt, sich im Besitz dieser glaubt und sie nicht sucht, wobei er zusätzlich den schweren Fehler begeht, die Relativität seiner Meinungen nicht zu kennen, wodurch ihm eine Grundvoraussetzung fehlt, um sich der Wahrheit zu nähern. Letzterer, weil er, indem er denkt, dass die Wahrheit nicht existiert, darauf verzichtet hat, sie zu suchen.

In jedem Fall müsste der Westen die Relativität des Relativitätsprinzips annehmen und ebenso, dass das Unwissen, das wir von der Wahrheit haben, nicht seine Inexistenz bedeutet. Wir müssen die Wahrheit wiederentdecken. Außerdem kann, wenn wir die Meinung des anderen kennen lernen, das nur unsere eigene bereichern. Der Dialog, das kommunikative Handeln wie Habermas sagen würde, ist nur von der Bescheidenheit der Anerkennung des persönlichen Relativismus aus mit der Hoffnung auf eine erreichbare gemeinsame Wahrheit mittels der gegenseitigen Bereicherung, mittels der Kommunikation, durch das Zusammenstellen der von den verschiedenen Standpunkten aus verfügbaren Information möglich. Da unsere eigene Meinung relativ ist, brauchen wir die Meinung des anderen, um die Wahrheit zu erkennen. Der Dogmatiker sollte sich dessen bewusst sein, dass das, was er als Wahrheitswissen annimmt, nur eine Interpretation ist, seine Interpretation eines Texte, wie richtig dieser Text auch sei.

Einer der Gründe für die radikale Desorientierung des momentanen Denkens entsteht wahrscheinlich durch die Trennung der wissenschaftlichen Lehre und der Lehre der Geisteswissenschaften. Das Wissen ist eins, und es gibt kein wirkliches Wissen, wenn es ein halbes Wissen ist. Es stimmt, dass der große Umfang des Wissens und die Kürze des Lebens zu einer Spezialisierung führt, aber das sollte nicht ein Fehlen einer mittleren Bildung, die zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften ausgewogen ist, mit sich bringen. Platon forderte Kenntnisse der Geometrie, um Philosophie zu studieren, heute müsste man Physik studieren, um ein guter Philosoph sein zu können, und Philosophie, um ein guter Physiker sein zu können. Das ist etwas, was viele Physiker machen. Unsere Differenzen mit anderen Denkensarten entsteht im Aufeinanderprallen zweier unvollkommener Bildungssysteme aufgrund ihrer übermäßigen Spezialisierung.

Eines der uralten Missverständnisse zwischen Islam und Christentum liegt in der islamischen Wahrnehmung, dass die Dreieinigkeit Polytheismus bedeutet. Bei einem Gespräch über dieses Problem, das ich mit zwei jemenitischen Imamen in Sanaa führte, kamen wir zu der folgenden Übereinkunft:

• Es gibt nur einen Gott, und es gibt keinen anderen Gott als Gott.
• Gott gibt sich dem Menschen zu erkennen, und der Mensch kann Gott nur durch seine Offenbarung erkennen.
• Eine natürliche Offenbarung Gottes ist die als Schöpfer, indem er sich als solcher in der Natur zu erkennen gibt.
• Eine andere göttliche Offenbarung zeigt sich im tiefsten Inneren des Herzens des Menschen, wenn dieser auf der Suche nach Gott in sich meditiert.
• Die andere Offenbarung Gottes dem Menschen gegenüber ist das Wort, das sich als Wort Gottes offenbart.
• Die Tatsache, dass sich Gott als Schöpfer, als Geist und als Wort offenbart, bedeutet nicht, dass es drei Götter sind.

Wir drei waren uns einig, aber einer der Imame stellte klar: „Wir sind uns einig, aber die wirkliche Offenbarung geschieht im Wort des Korans.“ Wir haben wirklich zwei Glaubensbekenntnisse, aber wir sollten Missverständnisse vermeiden. Das schlimmste Missverständnis entsteht, wenn sich der dogmatische Fundamentalismus auf theologischen Grundlagen, die von der Politik manipuliert sind, radikalisiert.

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